Views: 566

Natürlich. Es gibt hunderte von Karrieren. Etliche scheitern oder stagnieren. Und jeder Mensch ist anders. Und trotzdem: eine Sache ist mir immer wieder aufgefallen. Es ist eins von den Dingen, die ich nie klar benennen konnte, weil mir der Vorher – Nachher Vergleich gefehlt hat. Bis jetzt.

 

Ein Freund hat mich ungewollt „gerettet“.

Er macht gerade als Abteilungsleiter in einem mittelständischen Unternehmen Blitz-Karriere. Wir hatten über die Jahre manche sehr persönliche und geradezu intime Erfahrungen geteilt. Als ich ihn seit langem mal wieder als Teilnehmer in einem Workshop Kontext hatte, war ich zuerst völlig irritiert.

Ich erlebte einen Menschen, der wie ausgewechselt war: reserviert, kontrolliert und keine Chance, ihn aus der Reserve zu locken. Er stand immer etwas abseits der Gruppe und war nicht wirklich integriert – im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern, die sehr schnell einen Draht zueinander gefunden hatte. Zum Teil übrigens zu ihrer eigenen Verwunderung.

Als ich ihn ein paar Tage danach anrief kam vor allem Kritik. Eine Liste von Punkten, die ich falsch oder nicht optimal gemacht hätte.

Ich habe mir eine Menge Gedanken darüber gemacht und eine ganze Handvoll „Erklärungen“ gefunden. (Die vermutlich alle genauso falsch wie richtig sind.) Mein derzeitiger Favorit:

photo by Jusben from MorgueFile

photo by Jusben from MorgueFile 

So benimmt man sich eben als ordentliche Führungskraft.

Smart, klug, über den Dingen stehend, Kognitiv und intellektuell auf der Höhe. Für alles ein Urteil, eine Meinung, eine Position – sich selbst eingeschlossen. Und zugleich ja keine Wahrnehmung oder Äußerung über das eigene Erleben abgeben, die vorher nicht den Scham-Test bestanden hätte.

Das perfekte, beeindruckende Äussere, das bei mir immer auch das Gefühl hinterlässt, dass alles auch zugleich Fassade ist, die etwas verbirgt. Genau das ist es, das mich in den Führungsetagen immer wieder verunsichert.

Wenn im Unternehmen diese meist dunklen Seiten durchkommen ist das Entsetzten oft groß und entsprechend unbeholfen ist der Umgang damit. – gut sichtbar z.B. bei Skandalen, Bestechung, Prozessen mit hohen Strafzahlungen.

Mir geht es hier aber nicht um die Leichen im Keller. Mir geht es um etwas grundlegend Menschliches, etwas Notwendiges, das anscheinend gerne bei dem Run um Geld, Macht und Einfluss auf der Strecke bleibt.

Um etwas, das integriert und jedem Austausch die Tiefe gibt:

Verletzbarkeit

 

Beziehung braucht diese Öffnung.

Dieses sich so Zeigen wie ich bin. Und nicht die Show – wie ich gerne gesehen werden möchte.

Menschen sind da extrem sensibel.

Führung wird einfach, sobald ich aufhöre da zu irritieren.

Im Unternehmen sind Verletzbarkeit und Unsicherheit immer Störfaktoren auf dem Weg nach oben.

Da kein Mensch davon frei ist, haben wir Methoden gefunden diese vermeintlichen Schwächen zu überspielen: Macht, der hohe Stellenwert von Wissen, Kritik- und Entscheidungsfähigkeit und natürlich das Diktat des Erfolges, des Immer Mehr.

Und wo das nicht da ist, wird so getan als ob.

Ich erinnere mich an eine Klientin, die einen eigenen erfolgreichen Führungsstil hatte. Ihr waren in einem Energiekonzern die höheren Weihen trotz hervorragender Leistungen versagt blieben. Die Begründung: ihre ungenügende „Boardroom Presence“.

Ihre männlichen Kollegen hatten da anscheinend die besseren Karten. Ich vermute: die bessere Show.

 

Nicht von ungefähr hat eine Frau dazu bahnbrechende Arbeit geleistet: Brené Brown. Sie hat in jahrelanger Forschung aufgezeigt wie groß der Kollateralschaden ist den das systematische Verdrängen der eigenen Verletzbarkeit anrichtet.

Und welche Chancen sich durch dieses Wissen auftun. Gerade auch in Unternehmen und ihren Führungsetagen.

 

Karriere spielt nur all zu oft stufenweise ins Abseits.

Die Verbindung zu Anderen wird mit zunehmender Höhe dünner und verliert die sprichwörtliche Tiefe.

Beziehungen werden auf ihre Funktion reduziert.

Die lebensnotwendige Beachtung wird durch Anerkennung, d.h. Leistung ersetzt.

Kultur verliert ihren stützenden, Gemeinschaft bildenden Charakter.

Das WIR wird instrumentalisiert

Und da, wo es in dem Wahnsinn der ständig wachsenden Anforderungen die Möglichkeit nicht mehr gibt, die eigene Verletzbarkeit oder die Überforderung einzugestehen, brennen Menschen aus, nehmen Drogen oder begehen Selbstmord – wie in Japan mittlerweile üblich.

Janis sang:
Freedom is just another word for nothing left to loose…

Fragt sich, was wir angerichtet haben mit einer Gesellschaft die auf das Gegenteil zusteuert. Die kollektiv nach genau den Dingen giert, vor deren Verlust wir die größte Angst haben.

Das macht erpressbar. Vielleicht auch, weil wir uns dann so zeigen müssten wie wir wirklich sind. Das ist nicht nur ein Thema für Führungskräfte, sondern auch für Eltern, Lehrer, Coaches und Berater.

 

Ich persönlich finde es immer wieder herausfordernd und spannend zu erforschen, was Freiheit schafft, wenn man/frau viel zu verlieren hat. Und das ist kein Sadismus. Ich verstehe die Welt in der wir leben als Chance.

Verletzbarkeit könnte da ein wichtiger Hinweis sein.

Dieser Schritt hat allerdings etwas Paradoxes.

Zur eigenen Verletzbarkeit zu stehen braucht nämlich zuerst einmal Mut und Kraft – bevor es Mut und Kraft frei setzt.